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Carpe diem

 Petra Schuseil schlägt für die Blogchallenge in ihrem Totenhemdblog vor, dem Alltag etwas besonderes hinzuzufügen und gleichzeitig der eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein. Ich wählte mir den 1.März für meinen Beitrag, weil ich dachte, bis dahin wird mir schon etwas einfallen. Doch dann fiel mir einiges ein und ich beschloss, jeden Tag etwas zu schreiben:

13.02.2021

 Ich weiß nie, auf welche Spur mich mein Tag führt. Am besten sind jene Tage, die mies anfangen und am Abend im Rückblick, doch zufriedenstellend erscheinen. Manchmal schließt sich ein imaginärer Kreis und manchmal entsteht aus dem Geschehenen Kunst. Naja, ich nenne es Kunst. Schön, wenn daraus wiederum eine neue Idee erwächst, wie der folgende Tag zeigen wird.

14.02.2021

Die Straßen sind leer am frühen Morgen. Unheimlich und ungewohnt. Ich fahre an der JVA vorbei und denke, wie lange werden wir wohl noch Einzelhaft erdulden müssen? Lockdown ist ein Begriff aus dem Strafvollzug, habe ich gehört. Die Laubbläser sind auch wieder da. Wie immer. Schnell vorbei! Dann läuft dieses Lied im Radio, es rührt mich zu Tränen. „Coulter Geist“ von Phil Coulter.

 Nun bin ich am Ziel und möchte nicht aussteigen. Es sind die Pausen in diesem Lied, die mich so sehr rühren: gezielt gesetzte kleine abrupte Pausen wie ein kurzes Abtauchen. Nach jeder Pause geht es lebhaft weiter mit der unsagbar schönen lebendigen Melodie. Und doch sind es die Pausen, die mir die Tränen in die Augen schießen. Was passiert in diesen Pausen, in denen nichts passiert?

 Schon auf dem Parkplatz muss ich die Maske anlegen. Es ist sicherer. Ich gehe durch die Gänge zum Umkleideraum und lese wohl zum hundertsten Mal das Schild mit der Aufschrift „Bitte keine Dienstkleidung in den Müll werfen!“ Heute werfe ich das Schild in den Müll.

 Worte ohne Sinn und Nutzen, an den Adressaten vorbeikatapultiert, hundertmal meine Gedanken auf sinnlose Abwege geführt, gehören in den Müll. Aufatmen. Herta Müller kommt in meinen Sinn. Ihre ausgeschnittenen Wörter, aus denen Sie wunderbare Kunst-Postkarten und Collagen macht. Eine schöne Idee, den Worten einen neuen Sinn zu geben.

Später dokumentiere ich:

 Beobachtung: Ich habe Frau X weinend angetroffen

Reaktion: Ich habe versucht, sie zu trösten und blieb bei ihr.

Ergebnis: Es gelang mir nicht, sie zu trösten. Ich hatte den Eindruck, dass sie von einem früheren Trauma heimgesucht wurde. Sie hat sich in den Schlaf geweint.

Eigene Anmerkung: Was die Frau alles sagte, während sie so verzweifelt geweint hat, möchte ich nicht wiedergeben.

Ich wünschte, ich hätte es nie gehört.

 Am Abend schneide ich Wörter aus der Zeitung und sortiere diese in kleine Tüten, die aus den Fensterseiten gebrauchter Briefumschläge bestehen.

Es ist tröstlich, dem „Müll“ einen sinnvollen Verwendungszweck zu verleihen und somit eine übersichtliche Sortierung zu haben. Dann zerschneide ich die Kalender vom letzten Jahr und suche alte Postkarten zusammen.

Es kann losgehen. In Gedanken bin ich bei Herta Müller. Ihr Buch „Atemschaukel“. Schwer auszuhalten, doch unsagbar tröstlich, einfach durch die Intensivität des Erkennens:

Poesie kann ein Rettungsanker sein!

Ihr Spiel mit den Wörtern betrachtete ich als interessante Methode, bis ich es selbst ausprobiert und den Zauber darin erkannt habe.

(siehe auch: Experimentelle Schreibwerkstatt) . Mein Tag ist gerettet. Meine ersten Collagen sind hier zu sehen.

Von nun  werde ich weiter sammeln, Tag für Tag.

 15.02.2021

An vielen meiner Arbeitstage im Altenheim nehme den Tod wahr, seine Geduld, sein Warten. Ist er gütig? Warum sonst sollte geduldig sein? Ich erlebe, wie er sich Tag für Tag wegschicken lässt: „Nein, heute nicht, vielleicht morgen.“ Am nächsten Tag ist er wieder da und es sieht aus, als wäre er heute nicht umsonst gekommen. Doch am nächsten Morgen schlägt die Frau ihre Augen auf und sagt wieder: „Nein, ich will noch nicht.“ Sie ist zwar schon fast 100 Jahre auf dieser Welt, doch er geht wieder. Manchmal kommt er erst nach drei Tagen wieder, doch alle wissen: Das Versteckspiel kann nicht mehr lange dauern. In der Regel wartet der Tod geduldig, bis die Menschen bereit sind, mit ihm zu gehen, ist das nicht beruhigend? Das ist natürlich keine allgemeingültige Regel, sie ist ohne Verlass. Doch ich beobachte dieses Kräftespiel zwischen Loslassen und Hingabe und erlebe, wie er wieder abzieht. Und wieder anklopft.

Ich frage mich, ob ich auch kämpfen, zu feilschen versuchen werde oder eher nicht. Ich denke, es hängt in einem gewissen Grad davon ab, wie weit die Lebensangelegenheiten sortiert und geregelt sind. Ob alles gründlich bedacht, alle Gedanken aufgeräumt sind, oder ob da noch welche als Irrlichter herumgeistern.

 18.02.2021

Diese mentalen Irrlichter machen mir jetzt schon zu schaffen, da brauche ich gar nicht bis zum Lebensende warten. Jeder Abend schleppt in der Regel genügend Irrlichter-taugliche Fragen und Gedanken hinter sich her. Hinter mir her, um mich herum. Was passiert in den Pausen, wenn nichts passiert, hatte ich eingangs gefragt. Das ist eine gute Frage, die mir auch beim Anblick Bald-Sterbender in den Sinn kommt. Wohin entschwinden sie, wenn sie in tiefen Schlaf fallen?  Versinken sie in schöne Träume? Aufwachen, lächeln, ein paar Worte wechseln, sich dann mit der Realität mit all ihren Schmerzen, Beschwerden, der Kraftlosigkeit auseinanderzusetzen, um dann zu beschließen, „erst einmal auszuruhen“ Dieses Wegdriften scheint das Wertvollste in dieser Phase zu sein, natürlich neben dem Umsorgt Sein.

19.02.2021

Vielleicht berühren mich diese täglichen Beobachtungen gerade so sehr, weil das Ausklinken zurzeit für auch mich das Hauptziel ist. Diese Momente, dem Alltag zu entfliehen, sind gerade wichtiger denn je. Ob nun das „Wohin“ oder das „Wovon-weg“ das schwerere Gewicht dabei trägt, habe ich noch nicht feststellen können. Vielleicht halten sich diese beide Pole in Balance.

20.02.2021

Manchmal ergeben sich Formeln, die für den Alltag unerwartete Perspektiven eröffnen. Wie ich zu dieser Formel gekommen bin, versuche ich gedanklich zu rekonstruieren:

 

-Das Stichwort „Carpe Diem“ wirkt als Signalwort zum Innehalten.

- Blick auf richten, was gerade ist

- Neue Beziehungen zwischen Dingen werden sichtbar oder werden in spielerischer Absicht gesetzt, hier also:

aussortierte Fotos plus aussortierte Kalender gleich Freiraum für Gedanken.

Mit einem Mal habe ich einen Spielplatz für meine (teilweise verwirrten) Gedanken entdeckt. Sollen sie dort hinauspreschen, sich austoben, Dampf ablassen und ausgeruht und sittsam wieder hereintreten. Dann erfreue ich mich an neuen Zusammenhängen, neuem Sinn oder Unsinn, schrägem Humor. Dann ist alles, gut, dann weiß ich, sie sind jetzt gebändigt.

 21.02.2021

Den Begriff „poetische Alltagsanalyse“ benutze ich, um den Vorgang zu beschreiben, wie meine Vorstellungskraft aus Fragmenten eigener Erinnerungen und Erzählungen nahestehender Menschen eine Form bildet.

Das kann ein Bild sein, eine Skulptur oder ein kleiner Text. Egal, was genau daraus entsteht, es ist immer eine feierliche Würdigung gelebten Lebens- Carpe Diem.

Passend zum Sonntag.

22.02.21

Arbeit in der Gefahrenzone bedeutet, den Arbeitsbereich nicht verlassen zu dürfen. In der Mittagspause tue ich es doch, ich schleiche mich über die Terrasse auf einen Weg, den ich heute zum ersten Mal sehe, und gelange auf eine große Wiese in einen schönen Park.

Was heißt das: „sie hat das siebte Buch Moses?“ All die Sprüche, alles was ich am Vormittag erlebt habe, schleicht hinter mir her und versucht, mich einzukriegen. Ich beschließe, jetzt jeden Tag etwas zu tun, was ich vorher noch nie getan habe.

23.02.2021

Jeden Tag etwas Neues zu tun, ist leichter gesagt als getan, doch etwas Neues zu erfahren, zu lernen, das ist möglich. Gerade zufällige, ungeplante Begegnungen bringen oft Überraschungen. Manche Wissenschaftler vermitteln mitunter den Anschein von Allwissenheit. Ich trete nicht hier an, um Zweifel zu äußern, sondern um anzumerken: Wissen allein ist nicht alles und hier ist der Raum, selbst zu ergänzen, was dieses ALLES ausmacht......................................................................................................

24.02.2021

Knocking on heavens door

Von Christoph Riemer 

habe ich während des letzten Playing Arts-Sommeratelier gelernt, Resonanzen zu sammeln; aus einem reflektierenden Ritual heraus die Resonanzen vom Vortag zu erkennen um sie dann in Schriftform oder als Skizze festzuhalten. Die Schwingungen aus einer meiner liebsten Resonanz von gestern, entstanden aus einer ungeplanten, sehr angenehmen Begegnung, mündeten in diese Bildidee. Wobei ich wieder beim Thema Tod angelangt bin und mich auf die himmlische Perspektive freue, die sich gerade vor mir auftut.

 25.02.2021

Mit der himmlischen Perspektive hat es heute nicht geklappt, doch dafür kam es zu einem kurzzeitigen gedanklichen Perspektivwechsel:

Carpe Diem, genieße den Tag, genieße die letzten Tage, an denen du noch eine Behausung hast, einen Unterschlupf in Not und einen Ort, an dem du deine Kinder aufziehen kannst. Die grüne Stadt wird schon bald zerstört sein und niemand wird sich um die Obdachlosen und Hungernden kümmern, die Zerstörer am wenigsten. Doch jammern tun sie unentwegt, es gäbe immer weniger Vögel, immer weniger Insekten, die Artenvielfalt wäre bedroht. Der Mund sprich diese Worte während die Hände nicht ruhen, das alltägliche, schändliche Vernichtungswerk fortzuführen.

 26.02.2021

Gestern hatte ich Skrupel, meine Gedanken aufzuschreiben, doch was tun, wenn sie einmal Wurzeln geschlagen haben? Sind wir etwa nicht inmitten vom Leben vom Tod umgeben? Also!

Der Tod ist aktiv in unserem Auftrag, ob ich nun die Augen davor verschließe oder mir die dadurch verursachten Geschehnisse mit klarem Blick anschaue. Und die himmlische Perspektive ist ja immer noch da, und dieser wende ich mich heute wieder zu. „Knocking on heavens door“ von Bob Dylan im Kopf, schaue ich mich um und frage: „Wo ist die Tür zum Himmel ?“Sie ist überall, wo ich sie haben möchte, das ist die einfache Antwort.

Also, weitermachen, nicht aufgeben, Wege suchen und gehen.

 27.02.2021

You may say, I’m a dreamer....

Noch habe ich nicht vor, an der Himmelspforte anzuklopfen.

Ich suche lieber hier den Himmel auf Erden. Der Himmel ist das Gegenteil der Hölle und die Wege dorthin sind nicht gerade leicht zu finden. Oft lauern am Wegesrand teuflische Gestalten und locken mit schnell vergänglichen Genüssen, die einen hohen Preis haben: Genießen Sie jetzt und bezahlen Sie später! Fatale wirtschaftliche und ökologische Folgen räumen wir aus Ihrem Gesichtsfeld! Es ist nicht leicht, seinen Stern im Blick zu behalten, an den eigenen Traum zu glauben, jedenfalls auf lange Zeit. Der Stammesälteste der Lakota sagte einmal, alte Tradition sei so lange nicht ausgestorben, bis der letzte lebende Mensch noch davon berichten kann. Als wären Worte Saatgut. Wünschen würde ich mir das für die Misereor-Fastenaktion, deren Motto dieses Jahr lautet: Es geht! Anders.

28.02.2021

Etwa vor 5 Jahren habe ich im Rahmen einer Kreativen Schreibwerkstatt, die ich im Seniorenheim angeboten hatte, das Thema „Poesiealbum“ aufgegriffen. Beflügelt von der Begeisterung und dem Interesse der Teilnehmenden, beschloss ich damals, mir ein neues Poesiealbum zuzulegen. Die Einträge sind nicht zu vergleichen mit denen aus der Kindheit. Sie sind viel persönlicher, berührender und schöner als ich es mir je hätte träumen können. Es sind noch viele Seiten frei, doch es sind auch schon sehr viele gefüllt, mit persönlichen Widmungen von Freundinnen. Ab und zu hole ich es aus dem Regal und blättere darin. Dann denke ich jedes Mal: „Das ist wahre Poesie, das erste Poesiealbum aus der Kindheit war nur eine Vorübung:“ Mein Tag ist dann immer auf wunderbare Weise verschönert.

1.03.2021

Schön ist der Weg, wenn man ihn geht, ein Versprechen im Kopf, den Traum vom Ziel vor Augen und die Vorfreude auf das, was kommen mag, im Herzen. Wie der Monat März, der Vorfrühling mit den Schneeglöckchen, Winterlingen und all den anderen blühenden Pionieren, die den Frühling verkünden, obwohl es in Wirklichkeit noch etwas dauert, bis er richtig einmarschiert. Nun ist es Zeit, die Fenster zu putzen und Pläne zu machen.

 Und immer wieder: ein sonniges Plätzchen suchen, es sich bequem machen, innehalten, schauen, lauschen, riechen, die Sonne auf der Haut spüren und sich am Dasein zu freuen. Sich verwandeln.

Gewissheit
Gewissheit

 2.03.2021

Bis hierher zeige ich die Collagen. Ich werde noch bis Ostern weitermachen, doch nichts mehr veröffentlichen. Der künstlerische Prozess ist am Laufen-ich bin im Flow.

Es ist gut, ein tägliches Ritual

zu einem bestimmten Thema

in einem festgesteckten Zeitrahmen zu haben. Wenn die Zeit um ist, ist bereits anderes daraus entstanden. Eins wächst aus dem anderen, solange ich plane, denke und mache. Das ist sehr schön.

7.03.2021

Nun möchte ich doch noch ein paar Bilder zeigen:

16.März 2021

Heute ist Corona Jahrestag. Heute vor einem Jahr empfahl die Regierung, die Kontakte einzuschränken. Da ist einiges, was wir heute haben, was wir vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätten:

 

Ein Verweilverbot, dessen Einhaltung von der Polizei kontrolliert und durchgesetzt wird.

 

Ein Corona Lager für Verweigerer (in Dresden)

 

Ein Überangebot an Informationen zu Corona: wie viele Leute angesteckt, wie viele Leute gestorben (mit oder an Corona) Todesanzeigen mit der Zusatzinfo der Todesursache, wenn diese mit Corona zu tun hatte. Ein neuer Trend ist, diese Zusatzinformation der Todesursache „mit oder an Corona“ nochmals aufzuwerten mit der Information, ob der Verstorbene geimpft war oder nicht. Folgt demnächst dann noch die Information darüber, mit welchem Impfstoff der Verstorbene geimpft worden ist?

Mich persönlich würde noch interessieren, ob er symptomfrei gestorben ist oder nicht.

In diesen Zeiten schaue ich gern den Spatzen zu: 

Sie verhalten sich so schön normal: freudig aufgeregt hüpfend, flatternd, zwitschernd, immer schön in Kontakt mit der ganzen Schar.

Zu Ostern endet diese Aktion und mit dem Bild des Impfzertifikats beende auch ich meinen Teil und feiere das Fest der Auferstehung.

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Kommentare: 3
  • #1

    Petra (Montag, 01 März 2021 09:02)

    Hallo Martina,
    danke fürs Mitmachen.
    Großartig, dass du ein Tagebuch geschrieben hast ... die Schreibcollagen sind hängen geblieben.
    Danke!! Ich werde später "rebloggen".
    LG. Petra

  • #2

    Hiltrud (Montag, 01 März 2021 21:32)

    Hi, sehr berührend, Dein Text. Ich versuche auch immer mal wieder poetisch zu schreiben. Vor allem aber, überhaupt zu schreiben.
    In meinem Beruf treffe ich den Tod auch immer wieder. Als Seelsorgerin im Krankenhaus, als Pfarrerin wenn ich beerdige.
    Sehe ihn manchmal auch schon ... kommen ... gehen ... wiederkommen ... ja, so ist das.
    Danke

  • #3

    Geertje (Dienstag, 16 März 2021 19:32)

    Liebe Martina, ich muss das alles nochmal lesen, hier fühle ich mich wohl. Ich gäb was drum, dir mal analog zu begegnen. Lyrische Grüße von Geertje vom https://www.wandelsinn.de/
    Was wäre das Jetzt und Hier ohne die Dichte der Worte erspürt. ;-)) Danke für deine lieben Zeilen auf meiner Seite, sie berührten mich und hallen nach. Gerade in dieser Zeit ein Geschenk.