Neben der Autobahn aufzuwachsen, war für mich nie ein Problem. Die unter Hitler gebaute Autobahn A4, die ursprünglich für Kriegstransporte gebaut wurde und den Automobil-tourismus fördern sollte, kannte ich nur als nahezu brachliegende Trasse ohne wahrnehmbare Geräusch-emissionen. Ich bin 1962 geboren, in einer kleinen Kammer einer bescheidenen Siedlung in Eisenach-Ost. Vom Fenster aus sah man auf die Autobahn: Allerdings gab es dort in meiner Kindheit nicht viel zu sehen, denn während der Zeit des Kalten Krieges war die A4 eine einseitige Transitstrecke von und nach Westberlin. Nicht weit von Eisenach entfernt war die Zonengrenze. Klar bildet eine Transitstrecke immer eine Verbindung zwischen den Orten, so auch die A4. Dennoch war diese Straße immer auch ein Symbol der Teilung, nicht nur der Landschaft (das Überqueren war verboten) sondern auch des deutschen Landes, an dessen Grenze ich lebte, etwa die Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit.
Als die innerdeutsche Grenze fiel und Deutschland wieder vereint war, wagte niemand mehr, die A4 zu überqueren um den Weg abzukürzen, etwa, um auf den Hörselsberg zu kommen. War man, von Osten kommend, auf den Spuren der Frau-Holle-Sage unterwegs, musste man mit dem Auto die A4 nehmen. Der Verkehr war enorm und oft gab es Stau. Mittlerweile lebte ich im „Westen“ und kam nur noch nach Eisenach, um meine Eltern zu besuchen. Im letzten Jahr spazierten wir dann doch wieder über die A4, allerdings über den Abschnitt, der im Jahr 2010 zurückgebaut wurde. Der Asphalt und die gesamte Straßendecke wurden entfernt und die ehemalige Trasse der Natur zurückgegeben.
Dichte Büsche säumen den Weg und die Bäume, die ohne menschliches Zutun dort gewachsen sind, messen teilweise schon mehrere Meter. Während diesem Spaziergang durch die ungeteilte Landschaft fand ich diese beiden gespaltenen Kalksteine.
Die A4 teilt jetzt nördlich der Hörselsberge eine andere Landschaft und ich kann heute wieder, von meinem Geburtshaus aus, zu Fuß zu Frau Holle gehen.
Auf dem Berg gegenüber der ehemaligen A4, dem Leimberg, oberhalb des Trenkelhofes, hat Markus Robscheit aus Eisenach diese Foto aufgenommen.
Es ist mein Lieblingsbild, denn es zeigt im Hintergrund die Wartburg und davor die Hofferbertaue, meine alte Heimat-ohne Autobahn.
Im Januar 2016 las ich in einem Zeitungsartikel über einen Pionier der Erforschung anziehbarer Computer (wearable computer). Er ist Professor am Georgia Institut of Technology und testet seit mehr als 20 Jahren wechselnde Versionen anziehbarer Computer, zum Beispiel Datenbrillen. Das Sammeln, Aufzeichnen und Aufbereiten der gesammelten Daten heißt im Fachjargon „Lifelogging“. Auch europäische Wissenschaftler arbeiten an der Erweiterung unseres Gedächtnisses. Mit zwei Millionen Euro fördert z.B. die EU das Project Recall. An fünf Universitäten in Deutschland, der Schweiz und Großbritannien arbeiten Forscher an verschiedenen alltags-tauglichen Systemen, weil „in Zukunft sicher niemand auf ein perfektes Gedächtnis verzichten wolle“(Albrecht Schmidt, einer der Projektbeteiligten von der Uni Stuttgart). Der Artikel hat mich sehr beschäftigt, meine Fantasie angekurbelt und immer mehr Fragen in meinem Kopf aufgeworfen, zum Beispiel wie solch ein externes Gedächtnis aussehen kann und wie verbraucherfreundlich die Elektro-Erinnerungen vom Handel angeboten würden. Eine sehr einleuchtende Antwort fand ich bei Christian Morgenstern. Zu Christian Morgenstern empfinde ich eine große geistige Verbundenheit, nicht zuletzt weil er mir Fragen beantwortet, die mich 102 Jahre nach seinem Tode umtreiben. Sein Text „Künstliche Köpfe“ inspirierte mich dazu, diese Figur zu schaffen.
Die Basis hierfür, die Holzfigur aus Spanholz, diente mir schon zu verschiedenen Zwecken, zuletzt als Schaufensterpuppe. Nach der drastischen Mieterhöhung für die Werbefläche verlor sie diesen „Job“ und damit ihren letzten Rest von Bedeutung. Ich gab ihr ein Gesicht aus Pappmaché und empfahl ihr, sich in Zukunft selbst um ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Seit einiger Zeit steht die Oma, wie ich sie mittlerweile liebevoll nenne, im Eingangsbereich meiner Werkstatt und bietet Werbeflächen auf künstlichen Köpfen feil. Es lohnt sich, in den Sonderangeboten der Erinnerungsdatensätze zu stöbern! Die Implementierung von schönen Erinnerungen wird schon bald zu den Standartleistungen im modernen Gesundheitswesen gehören und der Begriff „Geteilte Erinnerung“ einen Bedeutungswandel erfahren. Nach der Ausstellung des Kunstvereins Fulda zum Thema "GETEILT" werde ich mich, wie Millionen anderer Menschen der Frage stellen müssen:
Wohin mit der Oma?
Den Gedanken, sie dem Projekt Recall zu schenken, habe ich verworfen und mich stattdessen entschieden, sie zu verkaufen. Angesichts des beträchtlichen Maßes an freien Werbeflächen erscheint mir die Aussicht auf einen anständigen Gewinn nicht unrealistisch. Unverbindliche Preisempfehlung:
900 € (Verhandlungsbasis) Verwendete Materialien: Sperrholz, Buchenholz Holunderäste, Draht, Papier, ein 1915 erschienener Roman und eine unzählige Menge an Gedanken und Betrachtungen.
Künstliche Köpfe!!!
– Jedermann ist ein Narr, der sich nicht einen künstlichen Kopf anschafft. Der künstliche Kopf wird über den natürlichen gestülpt und gewährt diesem gegenüber folgende Vorteile: a) des Schutzes gegen Regen, Wind, Sonne, Staub, kurz, alle äußeren Unbilden, die den natürlichen Kopf ohne Ende belästigen und von seiner eigentlichen Beschäftigung, vom Denken, abhalten; b) der Erhöhung der natürlichen Sinnesfunktionen: Man hört mit seinen künstlichen Ohren etwa hundertmal mehr und besser als mit den natürlichen, man sieht mit seinem Augenapparat so scharf wie ein Triëderbinokel, man riecht mit dem K.K. feiner, und man schmeckt mit dem K.K. differenzierter als mit seinem Vorgänger. Dabei braucht man jedoch nichts von alledem. Man kann die Apparate nämlich einstellen, wie man will, also auch auf ›tot‹. Der auf tot eingestellte K.K. ermöglicht ein vollkommen ungestörtes Innenleben. Geschloßne Zimmer, Mönchszellen, Waldeinsamkeit usw. sind fortan überflüssig. Man isoliert sich im dichtesten Volksgewühl. – Der K.K. wird nur nach Maß angefertigt und ist leicht zu tragen. Gegen unbefugte Berührung ist er durch eine eigene Batterie geschützt. Da er kein Haarkleid braucht, ist die Schädeldecke für Annoncen reserviert. – Wer klug ist und vorurteilslos, kann durch Übernahme einer geeigneten Großfirmenanzeige unschwer die Kosten eines K. K. herausschlagen, ja noch mehr, durch den künstlichen Kopf auch auf diesem Wege weit leichter Geld verdienen als durch den natürlichen.
Christian Morgenstern
Zum Thema Zeiteinteilung habe ich bereits im vergangenen Jahr eine Uhr gebaut, welche zwar nicht genau die Zeit anzeigt, aber eine noch viel bessere Funktion hat: Durch stetig schwingende Zeiger soll sie die Zeit neutralisieren und jeglichen Zeitverlauf aufheben. Die Idee zum Bau dieser ersten Uhr (siehe weiter unten) kam von Christian Morgenstern, der mir mit der „Korffschen Uhr“ eine exzellente Vorlage lieferte. An der Funktions-tüchtigkeit arbeite ich noch. Inzwischen habe ich eine zweite Uhr gebaut, die hier zu sehen ist. Die spezielle Funktion dieser Uhr ist es, Hilfestellung bei der Bewältigung der vielen Gedanken und Fragen rund um das Thema „Endlichkeit“ zu geben. Was passiert mit all den wunderbaren Momenten voller Hoffnung, Glück, Leidenschaft, Lachen, Wonne und sinnlicher Freuden, wenn sie aus der Gegenwart verschwinden? Sind sie für immer in der Vergangenheit verschwunden oder kommen sie zurück und begegnen uns in der Zukunft wieder? Meine Uhr soll ein Manifest sein- gegen die künstlich geteilte Zeit und das sinnlose Zerrinnen derselben und sie soll daran erinnern, dass sich kostbare Momente verdoppeln, wenn man sie mit einem lieben Menschen teilt.
Die Anregung für den Aufbau habe ich von Thich Nhat Hanh, der uns als buddhistischer Mönch dazu auffordert, „die Welt ins Herz zu schließen“. Wenn ich das versuche-die Welt ins Herz zu schließen, dann erkenne ich, dass jeder noch so kleine Augenblick kostbar ist und viele Grenzen und Einteilungen sinnlos sind, weil Alles Eins ist. In der Praxis ist das schwer, und davon sollen auch die verwendeten ungewöhnliche Materialien erzählen: Der Ständer meiner Uhr lag als Wurzel einer großen Fichte unter den Gehwegplatten einer Treppe zu einer Wohnanlage und hob die Treppenstufen an. Bis dieser sanfte Kraftakt sichtbar wurde, dauerte es etwa ein halbes Jahrhundert. Dann war die Treppe sanierungsbedürftig.
Die Sache mit der geplanten Sanierung war nicht sonderlich kompliziert, verursachte dennoch einen Streit zwischen den Nachbarn, der bis heute anhält, eine sehr ungesunde Wachstumsrate aufweist und die allerhässlichsten Blüten sprießen lässt. Eines Tages jedenfalls reichte es einem der Bewohner und er grub dieses Stück Wurzel aus und beseitigte somit die wichtigste Stolperquelle. Nun konnte der Andere nicht mehr behaupten, sein Leib und Leben wäre wegen seinem Nachbarn bedroht….. So wurde diese Wurzel ein Symbol für eine Teilung, für eine auseinanderdriftende Kluft zwischen sich streitenden Menschen. Warum ich ausgerechnet dieses Stück Wurzel bearbeiten musste um ein buddhistisches Manifest zu schaffen? Die Verarbeitung ging mir jedenfalls gut von der Hand und ich streiche gern über das nun glatte Holz. Das Zifferblatt war früher eine Lampe. Mein Gefühl sagte mir, dass ich irgendetwas Altes, verwenden sollte, um den Bogen von der Vergangenheit bis zur Zukunft zu ziehen. Ihr Licht ist längst verloschen, wie die unzähligen Momente im Leben eines Menschen.
Initiative für künstlerische Lebensgestaltung