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Kunst und Demenz

Sie hat alles vergessen, weiß nicht, was es zum Frühstück gab. Ihre Füße sind mit unterschiedlichen Schuhen bekleidet, doch das bekümmert sie nicht, denn sie wartet auf ihre Tochter, deren Namen ihr gerade nicht einfällt.

Doch statt ihrer Tochter kommen täglich neue Verluste in ihr Leben um sich dort festzusetzen. Sinnzusammenhänge schwinden: Was tut man mit den Buntstiften- zeichnen oder einen Zaun bauen? Oder doch eher auf den oberen Rand des Bilderahmens an der Wand legen?

Erstaunlicherweise vergisst Frau X. dennoch nicht, dass sie an dem kleinen Kunstwerk, welches im Eingangsbereich ihrer Einrichtung auf einem Tisch steht, beteiligt war. Sooft sie daran vorübergeht, geht ein Lächeln in ihrem Gesicht auf. Wenn sie in Gemeinschaft ist, entfacht sie sogleich ein Gespräch über den Prozess der Entstehung, kleine Details werden reflektiert, beschrieben, Gedanken dazu geäußert, Vergleiche angestellt. Oft bleibt es nicht bei dieser lebensfrohen verbalen Interaktion und die kleinen Figuren auf dem Dekorationstisch werden etwas anders formiert, wobei Lichteinfall und Blickrichtung zueinander genauestens beachtet werden.

Wenn ich zur Arbeit komme, freue ich mich über die Veränderungen und staune mit frohem Herzen, wie liebevoll dieser Dekorationstisch bespielt wird. Ich staune über mein Staunen, denn im Grunde ist nichts verwunderlich:

Kunst berührt und Kunst wirkt tief in unser emotionales und seelisches Leben hinein.(siehe auch hier:)

Um zu verstehen, wie dieses Wirken funktioniert, muss man auf den Entstehungsprozess schauen: In der Handwerker-AG, die ich im Altenheim leite, machte ich im Herbst den Vorschlag, eine Weihnachtskrippe zu bauen. Unser Material bestand zunächst aus Obstkisten und Holzabschnitten. Diese wiederum waren rechteckig und dreieckig, was uns im Planungsgespräch schnell zu der typischen Häuserform führte. Der Vorschlag von Frau X, eine ganze weihnachtliche Stadt zu bauen, wurde von den anderen begeistert angenommen. Bald schon waren die ersten Häuschen fertig. Sie selbst vertiefte sich jedes Mal sehr, die Struktur des Holzes zu untersuchen, die Maserung mit Farben nachzuspüren. Die Farbauswahl geschah sehr bedächtig, immer wieder suchte sie das Gespräch mit mir und tauschte sich mit anderen aus, teilte ihre Assoziationen mit und bereicherte somit den Themenkomplex „Haus- Behausung-Lebensumfeld“ mit immer neuen Aspekten. In der Adventszeit bauten wir dann gemeinsam unsere „Weihnachtsstadt“ auf. Bald darauf schickten wir auch die ersten Hirten auf den Weg zur Krippe. Mit dieser kleinen gebastelten Szenerie haben die Beteiligten weit mehr geschaffen als eine weihnachtlichen Dekoration: Sie haben Ausdrucksformen für ihr eigenes Empfinden gefunden und ihre eigenen, innere Wirklichkeit in die Realität gesetzt. In Erwägung der dementiellen Veränderungen, von denen diese Künstler und Handwerker betroffen sind, kann man auch sagen, sie haben Fakten geschaffen. Manufaktur bedeutet ja genau dies: Mit den Händen etwas herstellen.

Spiegelung des Himmels im Wasser
Spiegelung des Himmels im Wasser

Wenn sich ein Mensch, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend spüren kann, seine Sinne betäubt oder eingeengt sind, sich im Sparflammenmodus befinden, ist selbst sein geringster künstlerischer Ausdruck und seine Manifestation äußerst wichtig!

Es ist wichtig, weil der Erschaffende in seinem Werkstück einen Teil seines Selbst in der realen Welt erkennt, Selbstwirksamkeit kann hier zum Tragen kommen und damit das Verspüren von Halt. Ich vergleiche diesen Vorgang stets mit dem zaghaften Ausstrecken der Wurzeln. Dort, wo ein Pflänzchen etwas findet, woran es festzuhalten lohnt, kann es sich stärker verwurzeln.

Es gibt Lebenssituationen, in denen dies das Wichtigste überhaupt ist. Zum Beispiel, wenn man gerade in einem Altenheim gelandet ist.

Diese Situation ist gekennzeichnet von Trauer, weil Lebenspartner verstorben sind, von Verlust, weil die eigene Wohnung aufgegeben werden musste, vom eigenen Schwinden und Verfall.

Während der „Pandemie“ durften wir nicht gemeinsam basteln, die Dekoration wurde aus hygienischen Gründen auf ein Mindestmaß beschränkt. Die Einrichtungsleitung wechselte, das Verwaltungspersonal auch.

 Das „alte“ Leitbild, das bspw. vorsah, das Lebensumfeld der Altersgruppe anzupassen, wurde abgelöst durch etwas, was ich nicht erkennen kann. Meine Nachfrage mündet in dem Verweis auf christliche Werte.

Altes Mobiliar in den einstmals gemütlichen Sitzecken wurde „entsorgt“ und durch modernes, funktionelles Zeug ersetzt, auf allen Ebenen die gleiche Norm.

Hässlich ist das Lebensumfeld, in dem der menschliche Bezug fehlt.

Unser Dekorationstisch wurde weggeräumt. Eines Tages standen all die kleinen Dinge auf meinem Schreibtisch. Das ist nun etwa ein halbes Jahr her.Ohne Kommentar. Der neue Einrichtungsleiter und die Pflegedienstleitung möchten sich auch zukünftig vorbehalten, das Foyer selbst zu dekorieren, so wurde mir nun mitgeteilt. Vielleicht haben sie mittlerweile auch gespürt, dass all diese gekauften Dinge zwar auf den ersten Blick schön, doch seelenlos sind. Denn in der Zwischenzeit wurde eine Kindergartengruppe eingeladen, um die Glasscheibe der Eingangstür mit Fingerfarben zu „bemalen“. Dort, vor dem Eingang sah ich vor ein paar Tagen Frau X. Sie trug am linken Fuß eine Sandale, am rechten einen Halbschuh, Bluse und Rock über dem Schlafanzug. Aus ihrer Handtasche hatte sie gerade ein altmodisches Mobiltelefon gekramt. Sie rief ihre Tochter an: „Hol mich hier ab! Ich will nach Hause!“

Einen Moment lauschte sie in den Hörer und wiederholte dann die Frage, die ihr wohl gestellt worden war: „Wo ich hier bin? Das weiß ich doch nicht!“. Sie schaute sich um und las ihrer Tochter dann vor, was sie an der Eingangstür gerade entdeckt hatte: „Villa Fantasia".

Ich konnte Frau X beruhigen und sie davon überzeugen, dass sie besser drinnen auf ihre Tochter wartet. Ich nahm sie mit in den Bastelraum, ich holte die weggeräumten Basteleien aus dem Schrank und schon bald waren wir in ein Gespräch über Farbkomposition vertieft. Später an diesem Tag erzählte mir eine andere Bewohnerin, dass in ihrem Wohnbereich ein Katzenroboter getestet werde: Ein Plüschtier, das auf Ansprache reagiert. Ein Beruhigungsfaktor in Zeiten des Personalnotstandes, der nur vom Personal so genannt wird, von Einrichtungsleitung jedoch als „falsche Erwartungen“. Vielleicht ist ja, im Zuge dieser Entwicklung, ein Kunstautomat so eine Art Ersatzlösung für unser Problem: Dort können wir unsere kleinen Werkstücke zum Kauf anbieten. Mit dem Erlös könnten wir einen, wenn auch spärlichen Beitrag erwirtschaften, um die gestiegenen Ausgaben für die Dekoration etwas zu dämmen (die ja vorher nahezu nichts gekostet hat).

Schöne neue Welt?

 

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