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Trauer bei 60 Dezibel

Wann immer das städtische Gartenamt ihr Bataillon maschinengerüsteter Arbeiter auf unseren Friedhof schickt, frage ich mich, wie Lärm und Trauer überhaupt zusammenpassen können. Fulda ist nicht mein Geburtsort und die Gräber meiner Familie liegen woanders. Auch in meiner Geburtsstadt gibt es mittlerweile keine Stille mehr auf Friedhöfen.

Ich erinnere mich an das traurigste Begräbnis, welches ich bisher erlebt habe. Es ist immer ganz besonders schlimm, wenn ein junger Mensch ganz plötzlich stirbt.

Der zwanzigste Geburtstag lag erst ein paar Tage zurück. Ich habe sie sehr, sehr gern gehabt und selbst nach etlichen Jahren treibt mir die Erinnerung an ihren Tod noch die Tränen in die Augen. Unmittelbar nach Trauerfeier, auf dem Gang zum Grab waren Arbeiter mit Laubbläsern beschäftigt und dieser Lärm lehrte mich die wahre Bedeutung des Wortes

herzzerreißend.

Irgendwie habe ich es geschafft, auf die Arbeiter zuzugehen und zu sagen: “Machen Sie das aus.“

Eines Tages kam ich auf die Idee, mal den Geräuschpegel zu messen. Würden mir die exakten Daten eventuell das nur eingebildete Unbehagen nehmen können? Denn ich hielt es wirklich für möglich, dass ich einfach zu sensibel reagiere. Meine Nachbarin zum Beispiel nahm den Lärm nach eigenen Angaben gar nicht wahr, denn

„dass das laut ist, weiß man ja.“

Tatsächlich konnte ich von meinem Schlafzimmerfenster aus nur knappe 60 Dezibel messen. Ein anderes Mal maß ich auch nur wenig über 60

Dezibel in unmittelbarer Nähe der Arbeiter. So führte ich verschiedene Messungen durch und bemerkte, dass mich der Lärm nicht mehr ganz so viel ärgerte wie früher. Mit dem Mobiltelefon in der Hand und der entsprechenden App fühlte ich mich nicht mehr vollständig ausgeliefert. Ja, ich ertappte mich dabei, dass ich mich sogar freute, wenn ich mal wieder Arbeiter im Einsatz traf und messen konnte. Nach und nach reifte die Idee, den Lärm vielleicht etwas zu verwandeln, wenn ich ihn schon nicht abschaffen kann. Von Moondog, dem großartigen Musiker aus Manhattan inspiriert, wartete ich auf eine günstige Gelegenheit, Maschinenlärm mit Zitherklängen zu vermischen. Und zwei Tage nach dem Buß-und Bettag war es dann soweit, hier ist das Ergebnis:https://youtu.be/kWyQfOLYIUM


Die nächste Gelegenheit zum Orchester für Laubbläser und Zither ergibt sich schon ein paar Tage später!

23.11.- Tag 2: 7:30-14:00 Uhr

(Einsatzdauer des maschinenbewehrten Arbeits-kommandos in Gläserzell im Kindergarten, Schule und ....auf dem Friedhof)

Am Freitag vergangener Woche habe ich das erste Mal Zither zum Laubbläser gespielt. Heute, am Mittwoch (ich habe wieder meinen freien Tag) sind die Arbeiter wieder da und beginnen im Kindergarten. Diesmal habe ich eine alte Konzertzither mit. Alle Saiten sind auf einen Ton gestimmt so dass ich sie , wie ein Monochord notfalls

auch mit einer Hand spielen kann. In der anderen Hand halte ich das Handy und filme. Ein Arbeiter hält kurz inne, holt sein Handy heraus, fotografiert mich.

Ich gehe auf ihn zu. Noch ehe ich zu sprechen beginne, sagt er, ich hab‘ ein Bild von der Schule gemacht und nickt in Blickrichtung Schule. Ich frage, warum, er antwortet, na, Sie haben mich doch auch fotografiert, dreht sich um

und wirft seine Maschine wieder an. Hier ist der Mitschnitt:

https://www.youtube.com/watch?v=6eWa9KIrtt8


Ja, ich bin auch sonst lärmempfindlich

Eigentlich wohne ich in einem ruhigen Stadtteil mit kaum wahrnehmbarem Anliegerverkehr. Gegenüber unserer Wohnung befinden sich Kindergarten und Schule. Als wir im Jahr 2001 hierher zogen, empfand ich die Ruhe als paradiesisch. Dem fröhlichen Schellen der Pausenklingel folgten stündlich fröhliche Kinderstimmen - eine sehr angenehmer Kontrast zu Vogelgezwitscher und Stille. Doch im Lauf der Jahre hat sich einiges geändert. Die Schulglocke hat jetzt den Klang einer Bahnhofsruhe und ist auch genauso laut. Auch an Feiertagen durchdringt ihr Laut den ganzen Ort und jedes geschlossene Fenster.

Das Gartenamt hat aufgerüstet und allgemein ist Stille heute selten geworden. Vielleicht hält man mich für verwöhnt, aber

ich empfinde den durch die „Gartenpflege „verursachten Maschinenlärm mitunter für unerträglich. Seltsamerweise rückt das Einsatzkommando des Gartenamtes immer an, wenn ich frei habe. Kurz vor 7:00 Uhr kommen Kehrmaschine, Rasenmäher und Heckenschneider zum Einsatz, danach die Freischneider und Laubbläser. Ist das Gelände des Kindergartens fertig, kommt das Schulgelände dran. Nach dem Schulgelände, etwa gegen 11:00 Uhr wird der Lärm etwas leiser, weil dann die Maschinen auf dem Friedhof zu Werke gehen. Meistens sind sie etwa 14:00 Uhr fertig. Als hätten die Arbeiter mit ihrem Dauerlärm Impulse in die umliegenden Privatgärten gesendet, beginnt schon bald darauf der erste Nachbar seinen Rasenmäher rauszuholen. Das geht so weiter bis 17:00- 18:00 Uhr, je nachdem, wie die Nachbarn eben Zeit haben. Einer hat offensichtlich am Nachmittag eher weniger Zeit, denn er beginnt erst nach 18:00 Uhr, seinen Rasen zu mähen. Oder seinen Swimmingpool zu reinigen oder was auch immer.

An einem Tag im September 2012 wollte ich wissen was dieser Lärm eigentlich für die Kinder des Kindergartens bedeutet, wenn er mir schon durch die geschlossenen Fenster und in 100 Meter Entfernung auf die Nerven

geht. Auf dem Gelände des Kindergartens wurde von 7:15- 9:15 Uhr gemäht, geschnitten und Grasschnitt maschinell

weggeblasen. Das heißt, es waren drei Maschinen im Einsatz, zum Teil mit Benzin betrieben. Ich ging also hinüber und sah die Kinder in ihren an den Garten grenzenden Gruppenräumen spielen. Die Türen waren zum Garten hin offen. Die

Gehörschutz tragenden Arbeiter arbeiteten unmittelbar vor diesen Gruppenräumen. Den Dialog mit der Erzieherin, die nach einiger Zeit in den Raum kam, spare ich mir aus. Leitung und Personal sind mittlerweile neu, soweit ich informiert bin. Weitere Besuche im Kindergarten habe ich auch nicht mehr unternommen.

Auch mit dem Leiter des Gartenamtes und einigen Angestellten habe ich mehrfach über diese Angelegenheit gesprochen. Die Gespräche waren immer sehr freundlich und verständnisvoll, auch wenn wir über angeblich alternativ-lose Sachzwänge und ökonomisch begründete Vorgehensweisen unterschiedlicher Meinung waren und noch

immer sind. Mittlerweile habe ich mich so gut es geht, an die Veränderung meiner Lebensumstände gewöhnt. Nur einen Vorstoß habe ich in letzter Zeit unternommen: Ich besuchte unseren neu gewählten Ortsvorsteher und fragte ihn,

was er vom Thema "Lärmbelästigung" hält. Er findet auch, dass Friedhofsruhe wichtig ist- nicht nur wegen der Trauernden mit "schwachen Nerven".

Ich bin der Meinung, dass es lohnt, eine Abwehrhaltung gegenüber Lärmbelästigung aufrechtzuerhalten. Es gibt Verbündete- bei uns im Ort wächst deren Anzahl.

Lärm ist nicht normal, auch wenn es mitunter so dargestellt wird, wie hier in diese Annonce (passend zu Weihnachten?)

 

Kinderfreischneider!!!!

Ja, und ich spiele Zither zum Motorengeräusch, wenn ich wieder die Gelegenheit habe, die Arbeiter zu treffen.

 Und denke auch über Perkussion nach.

 

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