
Der Sturz geschah am späten Abend. Ich hörte das Geräusch des Aufpralls aus einem nicht definierbaren Punkt des Hauses und maß ihm nur geringe Bedeutung zu. Irgendwo wird wohl etwas heruntergefallen sein.
Am nächsten Tag fand ich die Venus auf dem Boden der Werkstatt. Die Venusfigur war aus ungebranntem Ton gefertigt, eine Arbeit aus meiner Kunsttherapieausbildung zum Thema Planetenwirken. Seit 11 Jahren steht sie auf einem Regalbrett über einem Wandschrank in Gesellschaft anderen seltsamen künstlerischen Figuren. Wie kann es sein, dass sie plötzlich runterfällt? Nach eingehender Betrachtung kam ich zu dem Schluss,dass sich durch das permanent auf die Vorderkante wirkende Gewicht der Figuren die Holzdübel am hinteren Regalrand gelöst hatten. Der ausgeübte Druck im vorderen Bereich des Regalbrettes bewirkte die allmähliche Entstehung einer Schräge, weil sich hinten die Dübel lösten. Das Brett bewegte sich in jahrelanger, nicht wahrnehmbarer Bewegung dem verhängnisvollen Kipppunkt zu. Trotz dieser Erklärung fand ich es merkwürdig, dass die Venusfigur gerade dann abstürzte, als ich von einer aktuellen Planetenkonstellation gelesen hatte, die als bedeutsames Zeichen für Wandel gewertet wird. Und ausgerechnet jetzt dieser Trümmerhaufen?

Heute kam mir plötzlich eine Erklärung für den Absturz ins Bewusstsein, die Ahnung einer mir bisher verborgenen Bedeutung.
Diese Ahnung manifestierte sich gerade dann meinem Kopf als Gedanke, als ich die Rahmen alter Bilder, die auch während meiner Kunsttherapieausbildung entstanden waren, ausbesserte. Ich wollte die Bilder ausstellen, dazu mussten ein paar schadhafte Stellen an den Rahmen ausgebessert werden. Die Rahmen waren aus Karton und auf der Suche nach festem, alten Papier fand ich eine Bibel in Taschenformat, die mir eine Ordensschwester „zum Basteln“ gegeben hatte. Die Schrift war ohnehin zu klein, dass könne heute ja niemand mehr lesen. Es kostete mich Überwindung, die Heilige Schrift in einzelne Seiten zu zerteilen, obwohl sie teilweise schon selbst auseinanderfiel. Das Papier ist einmalig fest und zart zugleich, also ideal für meine Zwecke. Das Evangelium wirkte also durch mein Tun, etwas zu reparieren, etwas wieder heil zu machen- alte Wunden zu heilen- auf materieller Ebene.
Das mag ungewöhnlich klingen und vielleicht fragen Sie sich, wieso ich nicht einfach neue Rahmen gekauft habe.
Die Antwort ist einfach: Erstens hat jedes Bild ein Format außerhalb gängiger Normen und zweitens ist es wohl klar, dass alle äußeren Rahmenbedingungen nicht am Fließband entstehen, sondern mühsam, mit viel Fingerspitzengefühl und Behutsamkeit geschaffen werden. Der Zufall hat mir die Heilige Schrift mit ihren alten und dennoch zeitlosen Geschichten als Material in die Hände gelegt.
In diesem Moment fiel mir die Venus ein und mir wurde klar, dass ihr Sturz ein bildhaftes Zeichen für mich war, ein Appell zum Neubeginn.
An ein Zusammensetzen der alten Bruchstücke war ohnehin nicht zu denken, dazu war der Grad der Zersplitterung zu hoch. Also blieb nur noch der Weg, den Ton, die zerbrochene Venus wieder einzustampfen, mit Wasser zu vermengen, eine geschmeidige Grundmasse herzustellen und wieder von vorne zu beginnen. Eine neue Form finden, das ist also meine Aufgabe. Die Bilder, die ich ausstellen möchte, erzählen alle eine Geschichte. Sie sind mir sehr wichtig, denn all unsere Lebensgeschichten sind Teil der Geschichte und unserer Kultur.

Als ich fertig war mit den Ausbesserungsarbeiten, fiel mir aus der alten Bibel ein Bildkärtchen in die Hände. Es zeigt ein Kindergesicht mit friedlichem Ausdruck, welches von Regenbogenhänden sanft gehalten wird. Es passt perfekt zu meinem Bild, welches ein altes Gesicht inmitten eines Regenbogens zeigt. Auch dieses Bild ist damals zufällig entstanden, weil mir die Skizze des Gesichtes und das Bild eines Regenbogens zufällig zusammen aus der Mappe rutschten und ich daraufhin beide Motive zusammenbrachte.
Nun habe ich das kleine Bild es an den unteren Rand des Großen geklebt. Wenn ich es betrachte, erfüllt mich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit angesichts dieses mir fast magisch erscheinenden Zu-Falls.So, und nun werde ich die Venus-Figur neu formen, denn Reparieren ist wirklich keine langweilige Angelegenheit.
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